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Rezension 22

Rezension Nummer 22 vom 23.01.2006

 

Nebojša Popov (Hg.), Sloboda i nasilje, razgovor o časopisu Praxis i korčulanskoj letnjoj školi (mit Milan Kangrga, Zagorka Golubović, Ivan Kuvačić, Božidar Jaksić, Ante Lesaja). Belgrad 2003. ISBN 8690294511

 

Rezensiert von: Nenad Stefanov (Frankfurt/Main)

 

Hält man dieses zunächst unscheinbar wirkende Paperback in Händen, so erscheint es schon durch seine Machart und Begrifflichkeit als Flaschenpost. Zwar kann sie nicht gegen den Strom angesagter Moden im Wissenschaftsbetrieb schwimmen, doch zumindest sich davon unterscheiden. Auf keiner der etwa 280 Seiten, in denen es doch um die jugoslawische Gesellschaft geht, ist von "Identität" oder "kultureller Zugehörigkeit" die Rede. In diesem Buch der ehemaligen Herausgeber der Zeitschrift PRAXIS und der Organisatoren der Sommerschule von Korčula, das als Resümee und Selbstvergewisserung jugoslawischer Sozialwissenschaftler über ihre Arbeit in den siebziger und achtziger Jahren angelegt ist, scheint ein Interesse an Wissenschaft auf, wie es heute allenthalben anachronistisch anmutet. Darin ist noch ein Begriff von Wissenschaft zu besichtigen, wie er vor mehr als siebzig Jahren von Max Horkheimer in dessen Aufsatz "Traditionelle und kritische Theorie" entworfen wurde. Es handelt sich um ein Verständnis von Wissenschaft, das deren Doppelcharakter als Instrument von Naturbeherrschung und die darin angelegte Möglichkeit zu emanzipatorischer Erkenntnis reflektiert; um einen Begriff, der das "Ausserwissenschafliche" – die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft systematisch in sich aufnimmt, dem es darum geht eine Vorstellung vom "schlechten Allgemeinen" zu entwickeln, als einer der Bedingungen der Möglichen von dessen Überwindung. Darin deutet sich das Verkapselte des schon lange marginalisierten Wissenschaftsverständnisses dieser Flaschenpost an.

Flackerte während der Kriege in Jugoslawien noch einmal kurz ein Interesse über die "Praxis-Gruppe" auf – als vage Erinnerung an gehaltvolle, intellektuell anspruchsvolle Urlaubstage an der Adria – ist mittlerweile von diesem Projekt kaum mehr die Rede. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens wird es höchstens in der Abteilung "Klub anationaler Gestalten" oder "schlimmer, weil linksradikaler als die Parteileute" geführt.

Dabei mögen nicht allein der Begriff von Wissenschaft oder die verschiedenen Dimensionen sozialphilosophischer Ausrichtung zu Neugier, erneuter Lektüre und kritischer Überprüfung anstiften. Für jene die sich mit der Zeitgeschichte Jugoslawiens beschäftigen, ist dieser Kreis von Philosophen und Soziologen aus einem weiteren Grund von Bedeutung: Der intellektuelle Zusammenhang um die Zeitschrift Praxis blieb eines der wenigen genuin "jugoslawischen" Projekte. Ohne auf die Initiative eines übergeordneten institutionellen Zusammenhangs zurückzugehen (wie etwa der "Philosophischen Gesellschaften" der Republiken) und ohne eine Idee der Partei zu sein (vielmehr gegen ihren Willen), konstituierte sich dieses Forum selbstständig. Genuin jugoslawisch war es gerade dadurch, dass darin über die stattfindende Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern aus den verschiedenen Republiken, vor allem den beiden Zentren Zagreb und Belgrad, kein einziges Wort verloren wurde, diese vielmehr den Mitabeitern selbstverständlich erschien. Allerdings beinhaltet diese Feststellung keine nostalgisierende Reminiszenz an vermeintlich bessere Tage. Diese Art der Konstitution eines jugoslawienweiten intellektuellen Forums bietet vielmehr eine gute Möglichkeit zum Vergleich mit den politisch initiierten bundesweiten wissenschaftlichen Projekten; etwa mit den Schwierigkeiten eine bundesweite historische Zeitschrift, den "Jugoslovenski Istorijski Časopis" zu begründen und aufrechtzuerhalten. Ein letzter Ausläufer dieses intellektuellen Zusammenhangs war ein politisches Projekt: UJDI (Ujedinjenje za jugoslovensku demokratsku inicijativu – "Vereinigung für eine jugoslawische demokratische Initiative"), das 1989 einen Kontrapunkt gegen den wachsenden Nationalismus zu setzen versuchte und darauf abzielte, durch Wahlen zu einer Bundes-Konstituante einen jugoslawienweiten Demokratisierungsprozess einzuleiten. Allerdings gelang es den Protagonisten von UJDI kaum, sich im Lärm nationalistischer Hysterie Gehöhr zu verschaffen.

Das hier besprochene Buch besteht aus zwei Teilen: einem Gespräch zwischen den ehemaligen RedakteurInnen und AutorInnen der Zeitschrift PRAXIS sowie einem Aufsatz des Soziologen Božidar Jaksić. Das Gespräch gliedert sich in vier Themenkreise: 1) Theoretische Ausgangspunkte der Praxis-Gruppe; 2) die Zeit der Herausgabe von Praxis mit einem Schwerpunkt auf das Jahr 1968; 3) Brüche und Verwerfungen innerhalb der Gruppe in den siebziger und achtziger Jahren; 4) was bleibt an Möglichkeiten von Gesellschaftskritik? Božidar Jaksić konzentriert sich in seinem Aufsatz auf die neuere Rezeption der Praxis-Gruppe und auf die innerhalb des ehemaligen Jugoslawien stattfindende Diskussion darüber, inwieweit Praxis als Dissidentengruppe zu betrachten sei.

In der ersten Gesprächsrunde werden noch einmal die philosophischen und gesellschaftstheoretischen Ausgangspunkte der Praxis-Gruppe vergegenwärtigt. Das Interesse für eine neue Richtung innerhalb der marxistischen orientierten Gesellschaftstheorie wuchs in Jugoslawien entscheidend seit Beginn der sechziger Jahre. Auf der Tagung der „jugoslawischen philosophischen Gesellschaft" im Jahr 1960 in Bled mussten die Verfechter der marxistisch-leninistischen Widerspiegelungstheorie in Kauf nehmen, dass sich neben solcher Orthodoxie eine zweite Richtung im jugoslawischen Marxismus etablierte, die den mechanischen Determinismus ablehnte. Diese neue Richtung begriff sich in erster Linie als philosophische Schule und nicht als ideologische Dienstleisterin der Partei. Dennoch orientierten sich die Initiatoren der Praxis-Philosophie an den ideologischen Zielsetzungen des Parteiprogramms von 1962, wo von Demokratisierung und Ausweitung der Selbstverwaltung die Rede war. Indem sie den Schwerpunkt ihrer theoretischen Arbeit im Gegensatz zum altbekannten schematischen Determinismus auf die kreativen zu entwickelnden Potentiale "des Menschen" legten, sollte vor allem die Verwirklichung der Selbstverwaltung kritisch begleitet werden. Jedoch diente der Verweis auf das Parteiprogramm (Program i Statut SKJ, 1962) auch dazu, im Windschatten der ideologischen Kommissionen Debatten führen zu können, die sich jenseits des eingeübten Parteikonformismus bewegten. Ein weiterer Unterschied zu den dogmatisch orientierten Theoretikern bestand darin, dass sich die Wegbereiter der Praxis Gruppe der westlichen Neuen Linken öffneten. Diese öffnung schien jenen dogmatischen Kritikern von Praxis Recht zu geben, die behaupteten, dass der Bezug der Praxis-Gruppe auf die jugoslawische Selbstverwaltung reines Lippenbekenntnis war. Zugleich wuchs durch die Sommerschule von Korčula, und die Präsenz westlicher Philosophen auf der Insel vergrößerte innerhalb der Partei das Misstrauen gegenüber den Organisatoren und führte schließlich dazu, dass 1974 Zeitschrift und Sommerschule eingestellt wurden.

Allerdings zeigen sich in dieser ersten Gesprächsrunde über die theoretischen Postulate auch die Unterschiede gegenüber einer der prominenteren Ausprägungen der westlichen Neuen Linken, der so genannten Frankfurter Schule, als deren Außenposten die Praxis-Gruppe immer wieder von ihren Kritikern bezeichnet wurde. Vor allem die erste Generation der "Praxis-Gruppe" entwickelte keinen historisch konkreten Begriff des gesellschaftlichen Handelns. Es war ein Handeln des "Menschen an sich", ohne eine geschichtsphilosophische Verortung dieses Subjekts. Im zentralen Stichwort der Praxis-Gruppe, dem „schöpferischen Menschen", verschwammen verschiedene philosophische Konzeptionen: von einer hegelianisch geprägten Vorstellung des stetigen vernünftigen Forschritts in der Geschichte bis hin zu einer Art anthropologischen Blicks auf Gesellschaft. Diese Grundlegung der Praxisphilosophie auf "dem Menschen" an sich, jenseits von Geschichte und Gesellschaft, war vor allem der Notwendigkeit geschuldet, aus dem historischen Determinismus der Klassenideologie auszubrechen, in der das Individuum lediglich Funktionseinheit der jeweiligen Klasse war.

An diesem Punkt zeigt sich, wie aufschlussreich eine detaillierte Analyse der theoretischen Ausgangspunkte der Praxis-Gruppe für das Verständnis von Gesellschaftsinterpretationen in Jugoslawien sein kann. Eine Auseinandersetzung mit der Praxis Gruppe deutet zugleich auf die Grenzen einer Interpretation des Zerfalls der jugoslawischen Gesellschaft, die allein ethnische oder nationale Antagonismen am Werk sieht. Die in diesem Buch dokumentierten Gespräche stellen für eine sozialphilosophisch angeleitete Darstellung der jugoslawischen Gesellschaft insofern eine Herausforderung dar, als Nation, Ethnos und Religion, die zu Leitbegriffen der Darstellung von Krise und Zerfall Jugoslawiens wurden, aus dieser Perspektive als ausschließliche Erklärungsansätze unbefriedigend erscheinen. Jener Abschnitt, der die Konflikte und Brüche innerhalb der Praxis-Gruppe diskutiert, macht dies besonders deutlich. Die Konflikte innerhalb der Gruppe folgten nicht einem angenommenen Belgrad-Zagreb Antagonismus. Jedenfalls lässt sich der Streit mit Mihailo Marković, der sich ab Anfang der achtziger Jahre zuspitze, nicht auf einen Konflikt zwischen kroatischen und serbischen Philosophen reduzieren. Die Entscheidung Mihailo Markovićs, sich aus dem Praxis-Kreis zu lösen und die Unterstützung Miloševicćs als aufklärerisches Engagement zu begreifen, wurde von den übrigen Mitgliedern der Gruppe kritisiert, unabhängig davon, ob die Diskutanten, aus Zagreb, Sarajevo oder Belgrad kamen. Es handelte sich vorrangig um eine Diskussion unabhängiger Intellektueller über die Frage der richtigen Alternative zu dem sich in Auflösung befindlichen jugoslawischen Realsozialismus.

Das Buch ist daher vor allem ein Hinweis auf all Jenes, dass hinter einer Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte zu verschwinden droht, auf einen anderen Zugang zum Zerfall Jugoslawiens. Dieses Buch weist auf einen bestehenden Mangel in den kursierenden Interpretationen des Endes Jugoslawiens hin.

Zugleich kann die Praxis-Gruppe selbst Objekt einer theoretischen Auseinandersetzung sein, vermittels derer bestimmte Konzeptionen von Gesellschaft und gesellschaftlicher Ordnung, die in den siebziger und achtziger Jahren diskutiert wurden, in ihrer Bedeutung für den ethnisierten Zerfall Jugoslawiens untersucht werden können. Gerade die Verschränkung eines emanzipatorischen Selbstverständnisses und eines ethnisch-sozialen Kollektivismus ist ein Phänomen, dass über Jugoslawien hinaus relevant ist und sich zugleich in der Darstellung der Geschichte der Praxis-Gruppe verdichten lässt. Der Hinweis, auf die Komplexität der jugoslawischen Gesellschaft jenseits aller ethno-nationalen Schematisierungen, vermittelt durch den Fokus auf Praxis, lässt sich nicht einfach damit beiseite schieben, indem die Praxis-Gruppe als „Sonderphänomen" in einem System abgeschrieben wird, das ansonsten vornehmlich von nationalen Antagonismen geprägt sei. Vielmehr lässt dieses Besondere einen anderen Blick auf das schlechte Ganze zu.

Die Flaschenpost von der Adria-Insel Korčula ist unterwegs, fragt sich nur, ob sich jenseits des ex-jugoslawischen Geländes jemand finden wird, der sie entkorken wird.

 

Nenad Stefanov

 

Redaktion: Ulf Brunnbauer

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