Rezension 40
Rezension Nummer 40 vom 27.04.2006
Tanja Popović: Die Mythologisierung des Alltags. Kollektive Erinnerungen, Geschichtsbilder und Vergangenheitskultur in Serbien und Montenegro seit Mitte der 1980er Jahre (= Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, Bd. 5, hg. v. Andreas Guski und Heiko Haumann). Zürich: Pano Verlag, 2003. ISBN 3-907576-60-8, 189 Seiten, 5 (z.T. farb.) Abb.; Euro 32.-
Rezensiert von: Ulf Brunnbauer (Wedding)
Es ist mittlerweile Common sense, dass Mythen für die nationalistische Mobilisierung im ehemaligen Jugoslawien eine wichtige Rolle spielten; für Serbien betonten dies Autoren wie Ivan Čolović, Reinhard Lauer und Branimir Anzulovic. Die hier besprochene Monografie der Ethnologin Tanja Popović, die auf eine Lizentiatsarbeit am Historischen Seminar der Universität Basel zurückgeht, fügt sich in dieses Paradigma ein. Ihr zentrales Forschungsinteresse ist zu zeigen, wie der serbische Nationalismus „mittels eines historisierenden Folklorismus und eines medial vermittelten mythenorientierten Geschichtsbewusstseins seit Mitte der 1980er Jahre in eine breite Bevölkerung getragen“ wurde (9) und auf welche Aspekte der Vergangenheit die Mythenproduzenten zurückgriffen (23). Den besonderen Fokus legt die Autorin auf die Untersuchung der neu komponierten Volkslieder, die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren große Popularität genossen haben und sich vielfach durch nationalistische sowie mythenlastige Texte auszeichnen.
Nach der Darstellung ihrer Methoden und Fragestellungen sowie eines kurzen Überblicks über den Forschungsstand und die Quellenlage folgt ein konziser Überblick über die Desintegration des jugoslawischen Gesamtstaates und die Intensivierung des serbischen Nationalismus in den 1980er Jahren (27–62). Die Mythologisierung des öffentlichen Diskurses in Serbien zeigt sie (teilweise allzu) exemplarisch am Journalismus, an der historischen Publizistik und an der Literatur. Im nächsten Kapitel (63–83) analysiert sie die Entwicklung der kollektiven Erinnerung in Serbien und Montenegro seit den 1980er Jahren und kommt zum Schluss, dass sich eine ausgeprägte, durch den Kult des Bauerntums und den Ethos des Kollektiven gekennzeichnete Vergangenheitsorientierung durchsetzen konnte. Die Autorin bringt diese Form des kollektiven Gedächtnisses mit der traditionellen serbischen Volksepik und dem Ahnenkult in Zusammenhang, ohne aber klar zu machen, welche konkreten Verbindungen hier bestanden.
Das vierte Kapitel ist das Herz der Arbeit und beruht auf der Analyse der Texte von mehr als 100 neu komponierten Volksliedern, wobei sich Popović in ihrer Darstellung auf wenige Sänger konzentriert, die als repräsentativ für das Genre gelten sollen. Überzeugend stellt sie den nationalistischen Gehalt dieses Lieder dar und macht deutlich, dass sie aufgrund ihrer Omnipräsenz im öffentlichen Raum – sie gehörten u.a. zur „akustischen Untermalung“ bei nationalistischen Manifestationen (85) – einen wesentlichen Beitrag zur (Re-)Produktion historischer Mythen geleistet haben. Die staatliche Kulturpolitik sowie die elektronischen Massenmedien räumten dieser Musik breiten Raum ein. Durch die Integration von Elementen der modernen Popmusik fanden die neu komponierten Volkslieder auch Eingang in die Jugendkultur. In Zeiten der nationalistischen Mobilisierung wurden diese Lieder massenhaft rezipiert, nach 1995 galten sie aber „zusehends als Relikt einer vergangenen Kriegseuphorie“ (151).
Tanja Popović behandelt ein höchst relevantes Thema und präsentiert musikalische Beispiele eines teilweise skurril anmutenden serbischen Nationalismus, der historische und gegenwärtige Ereignisse in einer mythologischen Meistererzählung serbischen Opfer- und Heldentums verwebt. Die Analyse bestätigt im Großen und Ganzen die Ansichten des (oftmals zitierten) Philosophen Ivan Čolović zur Bedeutung von Mythen für die serbische politische Kultur. Die entscheidende Frage, wie diese Lieder auf die Lebenswelt der Menschen eingewirkt haben, wirft Popović leider erst in ihren Schlussfolgerungen auf (157). Wie so häufig bei Diskursanalysen fehlt auch eine stärkere Kontextualisierung der Lieder und eine differenzierte Betrachtung der Rezipienten.
Dennoch fügt das Buch unserem Wissen von der konkreten Erscheinungsform des serbischen Nationalismus einige interessante Facetten hinzu. Dieses Resümee wäre noch besser ausgefallen, wären dem Lektorat nicht einige Unklarheiten und Fehler entgangen: Die Autorin erwähnt z.B. immer wieder Montenegro, aber eigentlich geht es nur um Serbien; die Autonome Provinz Kosovo hieß 1981 nicht „Kosovo i Metohija“, sondern nur „Kosovo“ (29); der für die Popularisierung patriotischer Schlager in den 1990er Jahren so wichtige private Fernsehsender „Pink TV“ wird nicht erwähnt; S. 148 wiederholt fast wortwörtlich einen längeren Absatz von S. 147; welche „strukturellen Ähnlichkeiten“ der Nordirland-Konflikt mit dem hier untersuchten Konflikt haben soll, bleibt unklar (158); und in der Bibliographie sind schließlich einige serbokroatische Titel nur in deutscher Übersetzung wiedergegeben.
Rezensiert von Ulf Brunnbauer