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Christiane Brenner und Peter Heumos (Hg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR 1948–1968. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 22. bis 24. November 2002. München: R. Oldenbourg Verlag, 2005. ISBN: 978-3486576962, Euro 59,80.-

 

Der Titel des Sammelbandes ist programmatisch zu verstehen: Welchen Beitrag kann die Sozialgeschichte zum Verständnis der Funktionsmechanismen und sozialen Realitäten staatssozialistischer Gesellschaften leisten, angesichts einer nach wie vor auf das Politische fokussierenden Forschung über die Volksdemokratien? Mit dieser Frage beschäftigte sich die Jahrestagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee im Jahr 2002, woraus der angezeigte Band resultierte. Die empirischen Beiträge des Bandes betrachten vier ostmitteleuropäische Länder: Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR, wobei sich die meisten Beiträge (neun) der Tschechoslowakei (mit klar tschechischer Ausrichtung) widmen, während drei Aufsätze die DDR und jeweils zwei ungarische bzw. polnische Fallbeispiele behandeln. Zeitlich liegt der Schwerpunkt auf den ersten Jahren des Realsozialismus, wobei nicht klar wird, warum das im Titel erwähnte Jahr 1968 aus sozialhistorischer Perspektive eine Zäsur darstellen soll. Drei Beiträge haben allgemeinen bzw. theoretischen Charakter, ohne sich klar auf ein Land zu beziehen.

Diese Verteilung der Beiträge zeigt eine der wenigen Schwächen des Bandes auf, ohne dass dabei die Qualität der einzelnen Texte gemeint wäre: der weitgehende Verzicht auf – explizite oder implizite – Vergleiche, obwohl sich aus der Lektüre zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten ergeben. Auch eine stärkere Auseinandersetzung mit theoretischen Konzeptionen zur Interpretation des Realsozialismus hätte sich angesichts der Fülle des präsentierten empirischen Materials ebenfalls angeboten. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass kaum ein Beitrag auf die angloamerikanische Forschung Bezug nimmt oder sich kritisch mit ihr auseinandersetzt. Dies wird besonders deutlich bei den Aufsätzen zur Geschichte der Arbeit, wozu es eine breite englischsprachige Literatur gibt. So sind bereits seinerzeitige arbeitssoziologische Studien zu sehr ähnlichen Ergebnissen über die Verhältnisse am Arbeitsplatz gekommen wie die Beiträge des Bandes.[1] Auch eine stärkere Auseinandersetzung mit der Forschung zu diesen Themen in Bezug auf die Sowjetunion hätte sich angesichts deren Vorbildwirkung und des guten Forschungstandes angeboten.

Wenn man von diesem Mangel an Kontextualisierung absieht, handelt es sich um einen Band, der eine Reihe von höchst interessanten und originären empirischen Fallstudien vereint. Thematisch gruppieren sich die Aufsätze in vier Blöcke: Herrschaftsstrukturen und Konflikte in den Industriebetrieben, Betriebliche Kulturarbeit, Repression und soziale Klassen, Städtische und industrielle „Aufbaumilieus“. Dieser thematische Zuschnitt repräsentiert wohl nicht nur die Trends in der aktuellen sozialhistorischen Forschung zum Realsozialismus, sondern richtet auch den Blick auf jene Felder, die für den Charakter realsozialistischer Systeme von hervorragender Bedeutung waren: Betriebe als Orte der Vergesellschaftung, der Anspruch einen „Neuen Menschen“ zu schaffen, die Repression und schließlich die ambivalente Dynamik zwischen Aufbruchsenthusiasmus und obstinaten Praktiken der Menschen.

Konzeptuell-theoretische Überlegungen zum Potenzial der Sozialgeschichte für die Erforschung des Kommunismus stellt Christoph Boyer in seinem einleitenden Beitrag vor (13–32). Ausgehend von einer Skizzierung des Forschungsparadigmas der Sozialgeschichte diskutiert er die Qualitäten des realsozialistischen Herrschaftssystems. Boyer legt seiner Betrachtung einen sehr systemtheoretischen Ansatz zugrunde, dessen Potenzial insbesondere darin liegt, die systemischen Merkmale und Defizite des Realsozialismus aufzuspüren, wie z.B. seine eingeschränkte Responsivität und seine inneren Widersprüche. Boyer ist völlig zuzustimmen, dass dabei das Totalitarismus-Paradigma nichts taugt, und ebenso angebracht ist seine Warnung, dass, so wenig wie die Gesellschaft völlig in den politischen Intentionen der Macht aufging, diese selbst nicht autonom war. Freiräume gab es nur im System und Eigeninitiativen waren vielfach Hilfskonstruktionen, nicht freie Lebensentwürfe. Boyer betont daher die Zentralität von Ideologie, die durchaus Eingang in den Habitus fand, und wendet sich gegen die „sozialromantisierende Verklärung von ‚Eigen-Sinn‘, Spontaneität und Solidarität“ (27). In diesem Zusammenhang wäre interessant gewesen, etwas über die Möglichkeiten der Alltagsgeschichte für eine Gesellschaftsgeschichte des Sozialismus zu hören, denn eine strukturalistisch-funktionalistische Argumentation tut sich schwer, die gelebten Erfahrungen abzubilden.

Im darauf folgenden ersten thematischen Block geht es um Arbeitsbeziehungen, eines der zentralen Themen für die Geschichte des Realsozialismus. In den Beiträgen von Frederike Sattler (über Arbeiter in der Chemieindustrie in der DDR; 35–76), Małgorzata Mazurek (über Arbeiterinnen in einer Warschauer Glühlampenfabrik; 77–104) und Peter Heumos (über sozialistische Arbeitsinitiativen in der Tschechoslowakei; 133–178) steht das Konfliktverhalten von Arbeitern und ihre Reaktionen auf die Intensivierung der Produktion im Vordergrund. Alle drei Beiträge beruhen auf sehr dichten empirischen Darstellungen und weisen darauf hin, wie schwierig es für die regierenden Kommunisten war, ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen ihrer vermeintlichen Klientel, der Arbeiterschaft, näher zu bringen. So war den Arbeitsinitiativen in der Tschechoslowakei ein bescheidener Erfolg beschieden, u.a. weil Arbeiter unter Rückgriff auf ihre etablierten sozialen Identitäten ihnen widerstanden, wie Heumos ausführt. Andererseits hatten die Arbeiter und Arbeiterinnen auch erst zu lernen, wie sie sich erfolgreich gegen Zumutungen seitens der Partei oder des Betriebsmanagements wehren konnten, wurde ja öffentlicher Protest niedergeschlagen, wie Frederike Sattler in ihrer Mikrohistorie des 17. Juni 1953 in den Leunawerken in Jena sehr überzeugend heraus arbeitet. Sie, aber auch Mazurek und Heumos betonen die zentrale Rolle des unmittelbaren Arbeitsplatzumfeldes für die sich herausbildenden Kompromisse.

In diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist Mark Pittaways Untersuchung der Arbeitsbeziehungen in drei ungarischen Industriebetrieben aus unterschiedlichen Branchen, wobei er auf die Jahre 1950 bis 1956 fokussiert (105–132). Seinem Plädoyer für eine „kritische Soziologie des Arbeitsplatzes und der industriellen Beziehungen“ (105) lässt er eine differenzierte empirische Darstellung folgen, die zeigt, dass Knappheit in verschiedenen Wirtschaftssektoren je nach ihrer politischen Bedeutung zu unterschiedlichen Konsequenzen führte. Während qualifizierte Facharbeiter in zentralen Sektoren, wie dem Bergbau, bedeutende Verhandlungsmacht erlangen konnten, war das bei Arbeitskräften in der Leichtindustrie – wie den hier betrachteten Textilarbeiterinnen – viel weniger der Fall. Pittaways Beitrag und auch die anderen dieses Themenblockes verdeutlichen, wie differenziert die Arbeiterklasse im Realsozialismus war, und zwar sowohl zwischen Sektoren als auch innerhalb einzelner Betriebe (z.B. Facharbeiter vs. Neuzugänge vom Dorf). Weniger aufschlussreich ist hingegen der Aufsatz von Martin Krämer über „Innere Mobilisierung und veräußerten Klassenkampf in tschechisch-polnischen Montanbeitriebsräten 1948“ (179–202). Beim Bemühen, besonders innovativ zu sein, verliert der Autor seine Fragestellung aus den Augen; Sätze wie „So ist denn der parkettmächtige Mainstream sozialgeschichtlicher Kommunismusforschung zeitgenössisch beseelt vom konformistischen Impetus gewöhnlicher Siegerjustiz“ (181) machen die Sache auch nicht klarer.

Der zweite Themenblock handelt von der betrieblichen Kulturarbeit, der in den realsozialistischen Ländern aus zweierlei Gründen besondere Bedeutung zukam: zum einen, weil der Betrieb eine hervorragende Rolle für die Vergesellschaft spielte; zum anderen, weil die herrschenden Kommunisten auch den „Neuen Menschen“ schaffen und ihre kulturelle Hegemonie etablieren wollten, um so dauerhaft Legitimität zu erringen, wobei Arbeit ein ganz zentraler Platz zukam. Die Realitäten waren, wie die vier Beiträge in diesem Zusammenhang zeigen, in der Regel dann doch recht prosaisch. Helke Stadtland gibt einen umfangreichen Überblick über die Zusammenhänge von Kommunismus und Kultur mit Bezug auf die betriebliche Kulturarbeit der Gewerkschaften (205–242). In diesem Beitrag werden die zentralen Fragestellungen zu diesem Thema überzeugend ausgebreitet und der Forschungsstand resümiert (der Beitrag ähnelt auch mehr einem umfangreichen Forschungsantrag als einer empirischen Studie). Stadtland führt aus, dass die Kulturarbeit der Gewerkschaften nicht nur von Misserfolgen gekrönt war, sondern dort, wo sie Interessen und Bedürfnisse der Adressaten ansprach, auch durchaus auf Akzeptanz stieß. Konkrete Beispiele gewerkschaftlicher Kulturarbeit werden von Jiři Knapík (243–262), Jiři Pokorný (263–276) und Annette Schuhmann (277–403) untersucht, wobei die zwei Autoren die Tschechoslowakei und Annette Schuhmann die DDR betrachten. Obwohl alle drei Beiträge unter einem Übermaß an Deskription leiden, eröffnen sie sehr interessante Einblicke in die Welt der gewerkschaftlichen Kulturarbeit. Deutlich wird, dass die gewerkschaftlichen Kulturarbeiter einen schwierigen Stand hatten – sowohl gegenüber der Arbeiterschaft, die mäßig interessiert war an politisiertem Freizeitvergnügen, aber auch gegenüber der Partei. Anspruch und Realität klafften weit auseinander. Knapíks Beobachtung, dass gewerkschaftliche Kulturreferenten radikaler sein konnten als von der Partei erwünscht, verweist zudem darauf, dass es innerhalb der Trägergruppen des Regimes sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Neuen Menschen geben konnte und dass Radikalismus nicht nur von oben dekretiert war.

Der dritte Themenblock widmet sich einem Problem, das für die sozialhistorische Forschung zum Realsozialismus besondere Herausforderungen bereit hält: Wie kann Repression als ein wesentliches Merkmal kommunistischer Herrschaft in eine Sozialgeschichte derselben integriert werden? Konzeptuelle Überlegungen dazu präsentiert Dieter Segert (307–318), dessen Beitrag gut an den Anfang des Bandes gepasst hätte. Er diskutiert verschiedene Interpretationsweisen des Zusammenhanges von Herrschaft und Gesellschaft, wobei er dem Totalitarismus-Paradigma eine Absage erteilt, habe es doch „in naiver Weise die Allmachtsphantasien der kommunistischen Funktionäre für bare Münze“ genommen (311). Segert skizziert mögliche Fragestellungen einer Sozialgeschichte der Repression, wie z.B. die Untersuchung der Erfahrungshorizonte der Täter, die vielfach vor der kommunistischen Machtergreifung Opfer von Gewalt geworden sind. Schließlich betont Segert, dass auch realsozialistische Systeme Wandlungsdruck von unten ausgesetzt waren, nicht zuletzt, weil die Menschen vom Staat einforderten, was er versprach.

Die vier empirischen Studien zu diesem Thema behandeln Fallbeispiele aus der Tschechoslowakei, wobei drei Beiträge Repressionswellen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. nach der kommunistischen Machtergreifung darstellen: Karel Jech diskutiert die Unterdrückung der Großbauernschaft im Rahmen der Kollektivierung (319–336), Jiři Pernes die Niederschlagung von Arbeiterdemonstrationen in Brno im Jahr 1951 (355–364) und Mečislav Borák und Dušan Janák behandeln die „Retributionsgerichtsbarkeit“ gegenüber den Deutschen in den Jahren 1945 bis 1948 (365–422). Leider kann keiner dieser Beiträge die Anforderungen Segerts an eine Sozialgeschichte der Repressionen erfüllen, letztlich fehlt es allen drei an sozialhistorischen Komponenten, da sie vielmehr eine politische Ereignisgeschichte darbieten. Bei Jechs Studie der Unterdrückung der „Großbauern“ wird zudem nicht deutlich, worin nun der aufgrund neu zugänglicher Archive versprochene Erkenntnisgewinn liegt, und seine unreflektierte Verwendung des Begriffes „totalitär“ als Regimequalität (z.B. 324) widerspricht dem einleitenden Beitrag Segerts. Dasselbe gilt für Pernes, der ebenfalls von einem „totalitären Regime“ spricht (355) und der es auch unterlässt, die Arbeiterproteste in Brno des Jahres 1951 in einen breiteren Kontext zu rücken, so eindrücklich er den geschilderten Fall auch präsentiert. Gänzlich fehl am Platz ist der überlange (59 Seiten!) Beitrag von Mečislav Borák und Dušan Janák über die Volksgerichte in der Tschechoslowakei, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur gerichtlichen Behandlung der „deutsche Problematik“ geschaffen wurden. Der Beitrag hat weder mit Sozialgeschichte noch mit Kommunismus zu tun, und ihm mangelt es an einer Fragestellung. Trotz überlanger Ausführungen über die Quellenlage kommen weite Teile der empirischen Darstellung ohne Quellenverweise aus.

Einen anderen, für die tschechoslowakische Geschichte aber essenziellen Zeitraum verstärkter Repression behandelt Marketa Spiritova, die sich mit dem Alltagsleben tschechischer Intellektueller nach 1968 beschäftigt, die Opfer der „Normalisierung“ geworden sind. Ihr Beitrag fußt vor allem auf Oral History – eine Methode, die ansonsten im Band zu kurz kommt. Sie zeigt aus der Perspektive der Betroffenen, wie das Regime versucht hat, ihre Leben zu zerstören, auch ohne sie in das Gefängnis zu stecken. Die Frage nach dem genuinen Erkenntnispotenzial der Oral History für die Erforschung der Sozialgeschichte des Realsozialismus bleibt aber auch nach der Lektüre dieses an sich interessanten Beitrags offen.

Das letzte Thema, dem sich der Band widmet, ist für das Verständnis realsozialistischer Systeme – nämlich sowohl ihres Anspruches als auch ihrer Lebensrealitäten – besonders vielversprechend: städtische und industrielle „Aufbaumilieus“. Einleitend skizziert Michaela Marek in ihrem architekturhistorisch orientierten und reichlich illustrierten Beitrag die Genese der Idealstadtvorstellungen nach, die auch in sozialistische städteplanerische Entwürfe eingeflossen sind (425–480). Die Ausführungen sind zwar – für den Geschmack des Sozialhistorikers – teilweise etwas assoziativ, aber machen klar, dass Versuche, eine sozialistische Stadt zu bauen, auf eine lange Tradition der Idealstadt zurückverwiesen und auf der Idee beruhten, dass eine neue materielle Umwelt auch eine neue Alltagskultur, mithin den Neuen Menschen, nach sich ziehen würde. Hier wäre es interessant gewesen, etwas über mögliche direkte Beeinflussungen sowjetischer Städteplaner bzw. deren Rezeption westlicher Trends zu erfahren. Dabei fällt auf, dass die Autorin die für dieses Thema so wichtige Studien von Stephen Kotkin (über Magnitogorsk) und Victor Buchli (über Kommunehäuser im nachrevolutionären Moskau) nicht erwähnt.[2]

Die folgenden drei empirischen Studien gehören zu den besten Beiträgen des Bandes: Petr Lozoviuk am Beispiel der tschechoslowakischen Industriestadt Žd‘ár na Sázavou, Sándor Horváth am Beispiel der ersten sozialistischen Stadt Ungarns, Sztálinváros (heute Dunajváros; 481–504) und Katherine Lebow am Beispiel des polnischen Nowa Huta (527–542) diskutieren konkrete Versuche, „sozialistische“ Musterstädte zu errichten. Dabei ging es der Partei nicht nur um die Schaffung einer neuen Architektur und den Aufbau von Schwerindustrie, sondern vielmehr verstand sie ihre „sozialistischen“ Städte und Industrien als wesentliche Mittel der Gesellschaftspolitik und als Brutstätte des „Neuen Menschen“. Wie nicht anders zu erwarten, entsprachen die Resultate nicht den Intentionen. In Sztálinváros und Nowa Huta etablierten sich z.B. Jugend- und Arbeitersubkulturen, die von offizieller Seite als deviant angesehen wurden. In beiden Orten scheinen sich die jungen Arbeiter lieber in Kneipen als in Kulturhäusern aufgehalten zu haben und Raufereien waren in Nowa Huta eine „bevorzugte Freizeitbeschäftigung der jungen Männer“ (535). Der Staat konnte nicht alles kontrollieren und gerade die Jahre des Aufbaues waren ja auch recht chaotisch. Diese Abweichungen vom Ideal bedeuteten aber nicht, dass sich nicht neue soziale Identitäten, die vom kommunistischen Aufbruchsprojekt bestimmt gewesen wären, herausgebildet hätten, nur eben nicht die von der Partei erwarteten. Katherine Lebow schließt ihren vorbildlichen, sowohl Empirie als auch Theorie gesättigten Beitrag mit der Schlussfolgerung, dass Nowa Huta zwar ein Fehlschlag im Sinne der Intentionen des Regimes gewesen ist, aber ein „Erfolg“ im Sinne der Schaffung einer neuen, selbstbewussten Klasse, die sich nicht so leicht einschüchtern ließ, was sich u.a. darin zeigte, dass Nowa Huta immer wieder zum Zentrum von Arbeiterprotesten gegen das Regime wurde. Insofern eröffneten die Rhetorik und die Politik des Regimes symbolische Räume und diskursive Möglichkeiten, die auch zur Artikulation von Protest dienen konnten (540).

Differenzen in den seinerzeitigen sozialen Identitäten, die auch in der heutigen Sicht auf den Sozialismus hervortreten, macht Petr Lozoviuk aus, der zeigt, dass die Arbeiter des großen Metallurgiekombinats in Žd‘ár den Realsozialismus als Modernisierung und sozialen Aufstieg empfunden haben, weshalb sie die sozialistische Modernisierung des Stadtbildes gut heißen. Im Gegensatz dazu haben sich die alteingesessenen Stadtbewohner schon in den 1970er Jahren von den Zugezogen zu differenzieren versucht und die Zerstörung der Altstadt als Angriff auf ihre Identität und Kultur wahrgenommen. Die vom Regime angestrebte Verschmelzung von Einheimischen und Zuwanderern fand also nicht statt und diese Trennlinie ist auch in den Erinnerungen an den Realsozialismus präsent. Damit verweist Lozoviuk auf die große Bedeutung, die soziale Unterschiede im Realsozialismus hatten, wobei sie sich häufig über kulturelle Praktiken ausdrückten, und auf die Heterogenität der kollektiven Erinnerung an den Sozialismus, die stark von den individuellen Mobilitätserfahrungen geprägt ist.

Diese letzten Beiträge machen nochmals die Stärke des Bandes deutlich: Auf der Basis empirisch dichter Untersuchungen weist er nachdrücklich auf das Erkenntnispotenzial der Sozialgeschichte für die Erforschung des Realsozialismus hin. In sich kohärent und klar strukturiert präsentiert der Sammelband überwiegend geglückte Fallstudien zu vier ehemals sozialistischen Ländern in Ostmitteleuropa und eröffnet damit zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Ländern in Ost- und Südosteuropa. Durch die Auswahl der Themen zielt der Band in das Herz der realsozialistischen Systeme; es bleibt zu hoffen, dass diese Anregungen aufgegriffen werden und die hier präsentierten Forschungsstränge in Zukunft an Breite gewinnen, um die zahlreichen Desiderata bezüglich des Realsozialismus nach und nach abzutragen.

 

Rezensiert von Ulf Brunnbauer (Osteuropa-Institut, Berlin)
Email: ulf@zedat.fu-berlin.de


[1] Charles F. Sabel/David Stark: Planning, Politics, and Shop-Floor Power: Hidden Forms of Bargaining in Soviet-Imposed State-Socialist Societies. In: Politics and Society, 11:4 (1982), 439–476.

[2] Victor Buchli: An Archaeology of Socialism. Oxford/New York: Berg 2000; Stephen Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1995.

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