Rezension 63
Petrov, Petǎr; Gehl, Katerina; Roth, Klaus (Hgg), Fremdes Europa? Selbstbilder und Europa-Vorstellungen in Bulgarien (1850-1945). Münster [u.a.]: LIT Verlag, 2007 (= Kulturgeschichtliche Perspektiven; 6) 366 Seiten, ISBN 3-8258-0793-1, Euro 34,90.
Das Gefühl, eine „nachholende Modernisierung“ zu durchlaufen, ist für die Gesellschaften Südosteuropas seit dem 19. Jahrhundert Bestandteil der Selbstwahrnehmung. Der sich schnell intensivierende Austausch von Gütern und Ideen[1] führt zu einer Verbreitung von gesellschaftlichen Normen und Werten aus dem „Westen“ und schafft einen Rechtfertigungsdrang für die eigene, diesen Ansprüchen nicht gewachsene Gegenwart gegenüber einem – zum Teil verklärten – Idealbild. Die Etablierung eines massenwirksamen Nationalismus in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tut dabei ihr Übriges, da die gefühlte Rückständigkeit angesichts des emotionalisierten Verhältnisses zur Wir-Gruppe, der Nation, umso schmerzhafter empfunden wird.
Das Wechselspiel von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und deren Interpretation vor dem Muster der „Modernisierung“, bzw. „Europäisierung“ verfolgen die vier AutorInnen (Doroteja Dobreva, Katerina Gehl, Petǎr Petrov und Gabriele Wolf) im vorliegenden Band am Beispiel Bulgariens mit Studien aus dem Bereich der Volkskunde/Europäischen Ethnologie. Die Aufsätze befassen sich mit Theater, Mode, Zeitschriften, der Weltausstellung 1900 und Karikaturen. Der fachtypischen Herangehensweise entsprechend unterscheidet sich der Band vom Gros der geschichtswissenschaftlichen Literatur durch die Betonung des Gegenständlichen und Lebenspraktischen. Die Beiträge rekonstruierten das Innenleben einer bürgerlichen Lebenswelt, die im Bulgarien des späten 19. Jahrhunderts zwar noch im Entstehen begriffen ist, gleichwohl aber alle Hoffnungen auf eine rasche Modernisierung nach westeuropäischem Muster zu tragen hat.
Um einen Kritikpunkt an der Konzeption des Bandes vorneweg zu nennen: Die Darstellung hat manche Längen und die Zahl der Artikel hätte kleiner sein können. Unklar bleibt etwa, warum die zwei Beiträge von Gabriele Wolf zur Entwicklung des Theaters als Institution (S. 61-80) und der zeitgenössischen Debatte über das Theater (S. 49-60) nicht in eins gefasst wurden.
Im späten 19. Jahrhundert wird das bürgerliche Theater in Bulgarien populär. Impulse kommen von Außen, durch reisende Theatergruppen oder bulgarische Ensembles in Konstantinopel und jenseits des Osmanischen Reichs. Die bulgarischen Theaterkritiker nehmen aber zunächst das heimische Publikum ins Visier: „Es wäre wünschenswert, wenn das verehrte Publikum sich etwas mehr nach der Salon-Etikette verhalten würde. Das Theater ist keine Kneipe [...].“ (S. 74) Sie sehen den Erfolg des Theaters als Bildungsunternehmen durch die mangelnde Qualifikation der Zuschauer gefährdet. Es sind dieselben Argumente wie schon bei Lessing und Schiller: Das Publikum „befindet sich noch im ersten Stadium seiner ästhetischen Erziehung. Es begreift die wahren dramatischen Effekte noch nicht, die für den westlichen Zuschauer die genussvollen Emotionen hervorrufen.“ (S. 73) Den kommentierenden Journalisten ist diese Rückständigkeit peinlich, da sie unwillkürlich die Norm des „Europäischen“ anlegen.
Die dem zu Grunde liegende Konstruktion des „Westens“ oder „Europas“ beleuchtet der Beitrag von Gehl und Petrov zur Modekritik in der Presse des 19. Jahrhunderts (S. 15-48). Gegenstand ist die Krinoline, eine im 19. Jahrhundert modische Form des Reifrocks, und die Kritik an der aus Frankreich stammenden Mode durch die Aufklärer Rajko Žinzifov und Petko Slavejkov. Erstgenannter verurteilte den „schäbigen“ Anblick der Rock-Ungetümer, unter denen sich bequem auch ein Liebhaber verstecken konnte, und sieht „die Sittenreinheit, die Einfachheit und Bescheidenheit, durch die sich Bulgarinnen auszeichnen“ gefährdet (S. 27). Modeverrücktheit ist für ihn „Europäismus“ (S. 28), dem er den traditionellen Lebensstil als gesunde Alternative entgegenhält. Das simple Grundmuster in seiner Argumentation stammt allerdings selbst aus dem Westen, aus der romantischen Kulturkritik. Damit erhält die Auseinandersetzung eine weitere Dimension, die typisch ist für die im Band wiedergegebenen Debatten (und wohl für die gesamte Region Südosteuropa): Schlimmer noch als die westliche Mode scheinen Einheimische, die selbige imitieren, ohne das Phänomen selbst wirklich begreifen zu können. Auf dieser weiteren Stufe der Reflexion wächst bei den Intellektuellen die Frustration über die Realität der bulgarischen Gesellschaft. Slavejkov, der westlichen Einflüssen generell offener gegenüberstand als Žinzifov, klagt: „Mit unserem Wunsch, uns als Europäer zu zeigen, erscheinen wir als gute Affen, die alles nachahmen.“ (S. 42) Die berühmten Figur des Baj Ganju Balkanski aus der bulgarischen Literatur, die humoristische Darstellung eines Emporkömmlings mit schlechten Manieren aber großem Erfindungsreichtum, bietet sogar eine größtenteils positiv besetzte Personifikation der schlechten Imitation des Westens. Gabriele Wolf interpretiert die Figur als Ausdruck jener in-betweenness, die Maria Todorova dem „Balkan“ als Ganzem zuschreibt (S. 81-100).
Dobrevas detaillierter Beitrag über die Repräsentation Bulgariens auf der Pariser Weltausstellung 1900 (S. 101-152) zeigt eine Variation dieses Grundmusters im Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung, die das Beispiel des Theaters spiegelbildlich ergänzt: Hatten die Kritiker und Journalisten, die Schriftsteller und Essayisten (Gruppen also, die für die Ausformulierung der Nationalismen im 19. Jahrhundert eine Rolle spielten) am Theater noch die ungeschickte Imitation des Westens kritisiert, war ihnen der bulgarische Pavillon in Paris eine verzerrte Parodie auf Bulgarien. Da man eine wahrhaft bulgarische Architektur nicht kannte, hatte man beim Bau in Paris improvisiert. Das Ergebnis war eine „unmögliche Mischung aus Farben, vorspringenden Bauteilen und Türmchen, [...] eine geschmacklose und dumme Mischung aus irgendwelchen pseudoorientalischen Elementen ohne Charakter, ohne jegliches nationales Gepräge“. (S. 141) Wieder ist es eine vermeintliche Demütigung vor den Augen der westlichen Öffentlichkeit, welche die Kommentatoren in Rage bringt.
Ganz anderes Material präsentieren Petrov und Gehl in einer sehr detaillierten Studie zu bulgarischen Wandbildkarikaturen Anfang des 20. Jahrhunderts (S. 197-278) in zahlreichen, zum Teil farbigen Illustrationen. Wie anderswo in Europa auch, wurden politische Ereignisse in Form bildhafter Personifikationen der Staaten kommentiert, die Zeichen der gängigen Nationalstereotypen tragen. Das (Selbst-)Bildnis des Bulgaren ist dabei das des „arbeitsame[n] Kulturmensch[en]“ (S. 245). Interessant ist, welche aus anderen nationalen Narrativen in gleicher Form bekannte Motive sich hier wiederfinden – etwa das im polnischen Diskurs geläufige Bild der Nation als gekreuzigter Christus. Die Relation der stereotypen Figuren zu „Europa“ und ihre Positionierung auf einer „East-West Slope“[2] ist in diesem Artikel allerdings weniger greifbar als im Rest des Bandes.
Eine eigene Themengruppe bilden schließlich die Artikel zu Literatur, Rezeption und Übersetzung. Katerina Gehl vergleicht die Übersetzungspraxis bei fünf ausländischen Dramen Ende des 19. Jahrhunderts (S. 153-196). Die relative Sorglosigkeit gegenüber den Details etwa des höfischen Milieus bei Lessings Emilia Galotti und die Holzschnittartigen Vereinfachungen für das heimische Lesepublikum zeigen die „nationale Funktionalität“ (S. 192) der Übersetzungen. Petǎr Petrovs und Katerina Gehls ausführlicher Darstellung der Konstruktion Bulgariens als semi-fiktiver Schauplatz in George Bernard Shaws Stück Arms and the Man und der Rezeption des Stücks im Bulgarien (S. 279-354) fehlt leider ein Resümee. Petrovs auf einem Interview mit dem Regisseur Nikolaj Poljakov beruhender Artikel über die Aktualität von Shaws Stück (S. 355-359) hätte in diesem Beitrag ebenfalls Platz gefunden.
An den Reaktionen auf Shaws 1894 uraufgeführtes Stück lassen sich die Besonderheiten der bulgarischen (südosteuropäischen) Perspektive festmachen, die auf vermeintliche Repräsentationen von kultureller Asymmetrie zwischen West und Ost besonders reizbar ist. Die Komödie spielt vor dem Hintergrund des serbisch-bulgarischen Krieges im Jahr 1885 – ein Schauplatz, den Shaw deswegen wählte, weil er selbst und sein Publikum keine nähere Vorstellung davon hatten: „There is a place called Bulgaria, isn’t there?“ (S. 279). Seine romantisierende Darstellung Bulgariens (als ländliche Provinz) konnte dem bulgarischen Publikum aus eigener Anschauung nicht bekannt sein, da das Stück erst 1995 im Land aufgeführt wurde. Und erst anlässlich der Berliner und Wiener Aufführungen 1921 konnte es die nationalistischen Gemüter erhitzen, beeinflusst durch die Niederlage im Weltkrieg. Bulgarische Studenten störten die Veranstaltungen, da sie ihr Vaterland als unzivilisierten Ort verunglimpft sahen. Die bulgarische Presse stieg darauf ein, und es kam in Sofia zu Protestveranstaltungen gegen andere Theateraufführungen, da der Stein des Anstoßes eben nicht zu fassen war. Die Reaktionen folgen dem bis heute auch in Bulgarien immer noch greifenden Muster der „nationalen Empörung“, das aber weder ein regionales Spezifikum ist, noch zwangsläufig mit wahrgenommener kultureller Asymmetrie zusammenhängen muss. Dass der Schauplatz des Stückes nicht als allegorischer Ort verstanden, sondern als das tatsächliche Bulgarien verstanden wurde, könnte auf die Unfähigkeit zu „zivilisiertem“ Kunstgenuss verweisen, wie sie die Kritiker für das bulgarische Publikum diagnostiziert hatten. Die AutorInnen belegen, dass man das Drama schon in früheren Aufführungen in Österreich und Italien nicht als Fiktion verstand, sondern „durch das Prisma der aktuellen politischen Situation“ (S. 321).
Es sind also in erster Linie die – im Wechselspiel mit Fremdzuschreibungen produzierten – „Selbstbilder“ Bulgariens, die aus der Analyse von Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung und der sie reflektierenden Diskurse deutlich werden und die alle Beiträge verbinden. Problematischer gestaltet sich der Blick auf die im Titel genannten „Europa-Vorstellungen“. In seiner prägnanten Einleitung (S. 7-13) legt Klaus Roth dar, wie schwierig der analytische Gebrauch des Europabegriffs durch seine Strapazierung als „EU-isiserung“ in den ehemals sozialistischen Staaten nach 1989 ist, was „vielfach zu einer geschichtsvergessenen Verkürzung des Begriffs geführt“ hat (S. 7). Diese eingeschränkte Sicht beruht auf der Gleichsetzung von „Europäisierung“ mit einem „Entwicklungsmodell globaler Gültigkeit“ (S. 7), orientiert an der westeuropäischen Moderne.
Im vorliegenden Band bleibt „Europa“ aber Chiffre für jenes „Entwicklungsmodell globaler Gültigkeit“, das „moderne Europa“ (S. 8). In den präsentierten Quellen ist selten von „Europa“ zu lesen, dafür umso öfter in der Analyse durch die AutorInnen (vgl. z.B. S. 56). Es ist nicht immer klar, ob die „Europäisierung“ nun ein zeitgenössisches Konzept ist oder der Analyse durch die AutorInnen als Modell dient. Dementsprechend sind auch die „Europa-Vorstellungen“ der Zeitgenossen von denen der AutorInnen nicht genau unterscheidbar. Bei Themen wie den Karikaturen ergibt sich die Einordnung nationaler Selbstbilder in eine Europa-Nichteuropa-Dichotomie nicht unbedingt aus dem Material selbst, sondern implizit aus dem Arrangement der Darstellung.
Der Band rüttelt nicht an dem Modell von „Europäisierung“ als „nachholender Modernisierung“. Wegen der hohen Sensibilität für die lebenspraktische Seite von Modernisierungsprozessen in Südosteuropa und der im Detail sehr anschaulichen Darstellung der Wechselwirkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung bietet er aber eine anregende Lektüre.
Rezensiert von Nils Müller (Berlin)
E-Mail: nils.mueller@fu-berlin.de
[1] Vgl. zur Beschleunigung des Ideentransfers seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert: Trencsényi, Balázs; Kopeček, Michal (Hgg.): Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770-1945). Texts and Commentaries. Central European University Press. Vol. 1, Late Enlightenment. Emergence of the Modern „National Idea“, Budapest; New York 2006; Vol 2, National Romanticism. The Formation of National Movements, Budapest; New York 2007.
[2] Vgl. Melegh, Attila: On the East-West Slope. Globalization, nationalism, racism and discourses on Central and Eastern Europe. Budapest; New York 2006.