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Geschichte

Das Osteuropa-Institut Bildquelle: Anna Khaerdinova

Das Osteuropa-Institut Bildquelle: Anna Khaerdinova

Das Osteuropa-Institut ist in seiner mehr als siebzigjährigen Geschichte ein Spiegel der wechselvollen Beziehungen Berlins und Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn im 20. und 21. Jahrhundert. Die turbulente Gründungsphase ist hierfür ebenso ein Meilenstein wie die Zeit der Studierendenproteste Ende der 1960er Jahre sowie die Jahre des Systemzusammenbruchs und der Systemtransformation seit den 1990er Jahren. Im Verlauf dieser massiven Veränderungen hat sich mit der Osteuropaforschung auch das Institut selbst verändert. Durch die deutsche Wiedervereinigung 1990 und das Ende des Kalten Krieges geriet es unter massiven Rechtfertigungsdruck und kämpfte jahrelang um seine Existenz. Heute ist das Institut wieder zentraler Ort der deutschen und internationalen Osteuropaforschung.

Gründungsphase

Der erste Sitz des OEI in der Ehrenbergstraße | Fotograf: Gerd-Victor Krau / FU Berlin, UA

Der erste Sitz des OEI in der Ehrenbergstraße | Fotograf: Gerd-Victor Krau / FU Berlin, UA

Die Gründungsphase des Osteuropa-Instituts fiel in die turbulente Zeit der Neukonstituierung der Berliner Universitätslandschaft. An der Vorbereitung waren Vertreter des Bundes, der amerikanischen Besatzungsbehörde, der Stadt Berlin und der Freien Universität beteiligt. Im November 1951, drei Jahre nach der Gründung der Freien Universität Berlin, wurde das Osteuropa-Institut in der Dahlemer Ehrenbergstraße 35 eröffnet. Damit war es eine der ersten Institutionen der bundesdeutschen Osteuropaforschung. Die Einrichtung eines eigenen Instituts für die Erforschung des östlichen Europas war ein programmatisches Signal: Es galt, eine Osteuropaforschung zu etablieren, die sich von den alten Tendenzen der völkisch orientierten Ostforschung im Nationalsozialismus zu befreien vermochte – und die zugleich angesichts der neuen Realitäten des Kalten Krieges einen Platz in der veränderten Welt- und Wissenschaftsordnung finden musste.

Um diese Herausforderungen zu meistern, wurde eine strukturell neue Organisationsform gewählt, die sich durch Inter- und Multidisziplinarität auszeichnete und Politikberatung mit wissenschaftlicher Grundlagenforschung verband. Eine zentrale Rolle hierfür spielten die Gründungsprofessoren Werner Philipp (Geschichte), Walter Meder (Recht), Karl Thalheim (Wirtschaft) sowie Max Vasmer (Slavistik). Der regierende West-Berliner Bürgermeister Ernst Reuter forderte am 24. November 1951 auf dem Festakt anlässlich der Gründung, dass ein Bewusstsein dafür geschaffen werden müsse, dass die Länder hinter dem Eisernen Vorhang „zu Europa gehörten und daß das Institut dazu beitragen möge, ein Band zu den osteuropäischen Völkern zu schlagen und einen Weg in eine bessere Zukunft zu weisen.“ Diesem Auftrag sieht sich das Osteuropa-Institut bis in die heutige Zeit verpflichtet.

Nach zehn Jahren war das OEI von vier auf neun Abteilungen angewachsen: Zu Slawistik, Geschichte, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften waren Landeskunde und Soziologie, Medizin, Bildungswesen und Kunstgeschichte hinzugekommen. Im Sommer 1961 konnte das Osteuropa-Institut in den Neubau in der Garystraße 55 umziehen. Die Schlüsselübergabe erfolgte durch den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt.

Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Fotograf: Reinhard Friedrich / FU Berlin, UA, Foto-Sig. RF0364-06

Fotograf: Reinhard Friedrich / FU Berlin, UA, Foto-Sig. RF0364-06

Fotograf: Reinhard Friedrich / FU Berlin, UA, Foto-Sig. RF0074-05

Fotograf: Reinhard Friedrich / FU Berlin, UA, Foto-Sig. RF0074-05

Bedeutende akademische Institutionen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem östlichen Europa waren von 1918 bis 1945 etwa das Osteuropa-Institut in Breslau und das Institut für ostdeutsche Wirtschaft (ab 1936 Institut für Ostforschung) in Königsberg 1916–1945. Hier entstanden nach 1933 Forschungsarbeiten, die in planerischer und beratender Weise Einfluss auf die deutsche Besatzung Osteuropas nach 1939 und die Shoah nahmen. Das Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin stand einerseits in der Tradition der Breslauer und Königsberger Institute, andererseits sollte der Bruch mit der nationalsozialistischen Ostforschung offen durchgeführt werden. Allerdings war ein erheblicher Teil der Mitglieder des OEI in die Ostforschung der NS-Zeit involviert. 1966 veröffentlichte Werner Philipp aus Anlass der Universitätstage der FU eine fundierte Analyse der Ostforschung im Nationalsozialismus und wies diese zurück. »Der Gegenstand bleibt widerlich, beschämend«, schrieb er. Er konfrontierte seine eigene Disziplin mit ihrer sehr weitreichenden Schuld für die legitimatorische Vorbereitung des Kriegs und des Völkermords und stellte gleichzeitig die gesellschaftliche und moralische Verantwortung der Wissenschaft heraus. In seinem Vortrag erwähnte er jedoch nicht, dass er selbst von 1942–1943 im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete als stellvertretender Leiter der Oststelle sowie im Führungsstab Politik tätig war.

Das Marxismus-Leninismus-Projekt (1954–1964)

Franz Neumann Bildquelle: Rechte sind unbekannt

Franz Neumann Bildquelle: Rechte sind unbekannt
Bildquelle: Rechte sind unbekannt

Das Marxismus-Leninismus-Projekt bildete einen wichtigen Meilenstein in der Internationalisierung des Osteuropa-Instituts und einen bedeutenden Forschungsbeitrag. Das Projekt wurde in enger Kooperation mit den US-amerikanischen "Russian Studies" durchgeführt und untersuchte die ideelle Grundlage der osteuropäischen politischen und wirtschaftlichen Ordnungen – den Marxismus-Leninismus. Zwei Faktoren standen im Zentrum: Die Bestrebungen der deutschen Forschenden nach dem Ausbau der transatlantischen Zusammenarbeit im Bereich der Osteuropaforschung und der Wunsch, sich intellektuell mit dem Marxismus-Leninismus auseinanderzusetzen. Zugrunde lag die Annahme, das Verständnis der marxistisch-leninistischen Ideologie sei notwendig für die Analyse der Entwicklung des Ostblocks und der UdSSR. Zu den wichtigsten Protagonisten des Projekts gehörten auf deutscher Seite Werner Philipp und Hans-Joachim Lieber, während das Projekt in den USA durch die Unterstützung von Philip Mosely, Franz Neumann und Fritz Epstein ermöglicht wurde. Herbert Marcuse gab wichtige theoretische Anstöße. Die zentralen Arbeitsformen des Projekts waren regelmäßige Konferenzen, an denen Forschende aus westeuropäischen Ländern und den USA beteiligt waren. Das Projekt war letztendlich Begegnungsort für zwei gegensätzliche Ansätze: einerseits einer Vorstellung, die die Unterschiede zwischen dem Marxismus und der offiziellen sowjetischen Ideologie betonte und sich mit der Deutung der ursprünglichen Gedanken von Marx befasste, und andererseits einer Vorstellung vom sowjetischen Leninismus als einer direkten Fortsetzung des marxistischen Denkens. Das Projekt führte jedoch nicht zur Annäherung beider Denkschulen. Es zeigte vielmehr, wie schwierig es für die Osteuropaforschung war, sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges im Spagat zwischen »Feindforschung« und »wissenschaftlicher Objektivität« zu bewegen.

1968 am Osteuropa-Institut

Das Jahr 1968 war in vielerlei Hinsicht ein Jahr des Aufbruchs: die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die antiautoritäre Bewegung, demokratische Aufbrüche im Osten, die Niederschlagung des Prager Frühlings. Studierende in Berlin waren besonders aktiv in dieser Bewegung. Auch am Osteuropa-Institut fand dies seinen Niederschlag. Allerdings stand das Institut nicht so stark im Zentrum der Proteste wie das benachbarte Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Zwei zentrale Protagonist:innen der Studentenbewegung studierten am OEI: Gretchen und Rudi Dutschke. Rudi Dutschke war zudem studentische Hilfskraft in der Abteilung Soziologie des Instituts. Aus der außerparlamentarischen Opposition und den studentischen Hochschulbünden kam es in der Zeit von 1967 bis 1969 immer wieder zu Streiks an Berliner Universitäten. Gestreikt wurde unter anderem gegen die Einführung von Studiengebühren, für ein größeres Mitspracherecht an den Hochschulen oder für eine Politisierung des Lehrbetriebs. Auch am OEI streikten die Studierenden am 17. Januar 1969 und hinderten den Instituts-Direktor Werner Philipp an der Abhaltung seiner Vorlesungen. Dem Institut unterstellten die Studierenden in „friedlicher Symbiose mit Geheimdiensten“ zu leben. Auch in den folgenden Wochen wurde weiter gestreikt. In einem Aushang äußerten einige Mitarbeitende des Instituts die Sorge, dass die Unterstellung einer Kooperation mit dem Verfassungsschutz ihnen Reisen ins sowjetische Ausland erschweren könne.

Internationalisierung

Exkursionsverlauf von 1991 Bildquelle: FU Berlin, UA, Bestand ZI OEI, Sig. 271a

Exkursionsverlauf von 1991 Bildquelle: FU Berlin, UA, Bestand ZI OEI, Sig. 271a
Bildquelle: FU Berlin, UA, Bestand ZI OEI, Sig. 271a

Bereits seit seiner Gründung verfügte das OEI über exzellente Beziehungen zur englischsprachigen Osteuropaforschung. Konferenzteilnahmen, Gastvorlesungen, Forschungsaufenthalte oder Gastprofessuren, insbesondere in den USA, Großbritannien, aber auch Israel konnten dabei stetig institutionalisiert werden. Forschungskontakte hinter dem Eisernen Vorhang gestalteten sich jedoch bis Anfang der 1970er Jahre schwierig. Erste vorsichtige Kontakte nach Osteuropa kamen im Rahmen von Bücheraustauschen mit sowjetischen oder polnischen Bibliotheken in den 1950er Jahren zustande, etwa ab 1952 mit dem Westinstitut (Instytut Zachodni) in Poznań. Beide Institute verfolgten das Ziel, den Austausch zwischen deutscher und osteuropäischer Forschung wiederherzustellen. Ein weiterer Meilenstein der Internationalisierungsbemühungen war das 1968 abgeschlossene Kooperationsabkommen der Freien Universität mit der Ždanov Universität in Leningrad. Das Abkommen bildete die Grundlage für Sprachaufenthalte und Exkursionen Berliner Studierender in die UdSSR.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs musste das OEI um seine Weiterexistenz bangen. Erforderlich waren eine umfassende Restrukturierung und inhaltliche Neuorientierung. Im Fokus stand nun nicht mehr der Systemvergleich, sondern der postsozialistische Wandel. Um Forderungen nach einer starken interdisziplinären Ausbildung gerecht zu werden, wurde 1991 der Magisterstudiengang Osteuropastudien eingeführt. Auch der geographische Fokus erweiterte sich über die Jahre. Während Kooperationen mit traditionellen osteuropäischen Partnern institutionalisiert und ausgebaut wurden, wächst seit einiger Zeit das Interesse an den Peripherieregionen der ehemaligen UdSSR. Dieser Fokus auf transnationale Verflechtungsräume hat seit 2018 dazu geführt, dass das OEI sein Partnernetzwerk in den Ländern des Südkaukasus, in Zentralasien, aber auch im Nahen Osten und dem Iran ausgebaut hat. So können Studierende am OEI mittlerweile über zahlreiche Mobilitätsprogramme diesen Verflechtungsraum erfahren.

1992–1997: Das Graduiertenkolleg

Bildquelle: Kateryna Gamolina

Bildquelle: Kateryna Gamolina

Mit der Perestroika setzte ein Reformprozess ein, der im gesamten Ostblock erdrutschartige Veränderungen auslöste. Spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war nicht nur die Weltordnung des Kalten Krieges außer Kraft gesetzt – auch die Wissensordnungen der Osteuropaforschung mussten sich vollkommen neu orientieren. Auf diese tabula rasa reagierte das Osteuropa-Institut mit der Beantragung eines interdisziplinären Graduiertenkollegs. Unter dem Titel »Die Umgestaltungsprozesse der gesellschaftlichen Systeme in Ost- und Südosteuropa und ihre historischen Voraussetzungen« entstand damit der erste größere deutsche Forschungsverbund zur Epoche der großen Transformationen und zugleich eines der ersten Graduiertenkollegs der DFG überhaupt. In zwei Förderphasen forschten bis 1997 24 Nachwuchswissenschaftler:innen zur Ästhetik des Protests in der osteuropäischen Kunst, zur ökonomischen Schocktherapie der postsozialistischen Marktwirtschaften, zur politischen Rhetorik der Demokratisierung, zum Streit um das historische Erbe und zu aufkeimenden neuen Nationalismen. Das Graduiertenkolleg am OEI wurde zu einem Hotspot der Begegnung von Ost und West. Kollegveranstaltungen wie die große Tagung »Der Umbruch in Osteuropa – eine Mythendämmerung« im Dezember 1992 stießen auf große öffentliche Resonanz und die aus dem Graduiertenkolleg hervorgegangenen Publikationen, etwa die Kollegreihe »Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel«, sind noch heute wegweisend für unser Verständnis der Transformationsepoche.

Weiterexistenz des OEI

Der Fall des Eisernen Vorhangs brachte auch das OEI ins Wanken. Die »totale Vorherrschaft der Sowjetunion« in Wirtschaft, Soziologie und Philosophie und somit die Einheitlichkeit Osteuropas sind Vergangenheit, formulierte FU-Vizepräsident Peter Kuhbier 1992 und stellte somit die Notwendigkeit eines eigenständigen Osteuropa-Instituts in Frage. Auch wenn er seine Aussage nachträglich revidierte, war die öffentliche Debatte bereits in vollem Gange. So wurde der Vorwurf erhoben, man habe am OEI die Entwicklungen der letzten Jahre verschlafen und arbeite ineffizient. Die Mitarbeiter:innen und die Studierenden des OEI reagierten mit Protesten und forderten das Weiterbestehen des Instituts bei gleichzeitiger Umstrukturierung. Argumentiert wurde auch, dass eine Schließung des Instituts ein wichtiges wissenschaftliches Kommunikationszentrum zwischen Ost und West zerstöre. Die Schließung konnte abgewendet werden und das Institut wurde reformiert.

Jubiläums-Ausstellung

Gertrud Pickhan und die Ausstellung Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Gertrud Pickhan und die Ausstellung Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Am 1.11.2021 wurde die Ausstellung „Ein Kind des Kalten Krieges – 70 Jahre OEI“ mit einer Festveranstaltung eröffnet, die bis zum 30.11.2021 im Henry-Ford-Bau zu sehen war. Die Ausstellung warf Schlaglichter auf die Geschichte des Instituts seit seiner Gründung 1951. Am 24.09.2021 ist ein Artikel über die Ausstellung in der FU-Tagesspiegel-Beilage erschienen, in dem die Kuratorinnen Prof. Dr. Gertrud Pickhan und Dr. Alina Bothe sowie der Projektassistent Tom-Aaron Aschke von der Entstehung der Ausstellung berichten. Den ganzen Artikel können Sie gerne hier lesen.