Kriegsvergangenheiten im Gegenwartsfilm
Im Rahmen des novinki-Seminars „Geschichtsbilder und Kriegsdarstellungen im (ost)europäischen Film“ nahmen 35 Studierende der FU Berlin und der EUV Frankfurt (Oder) digital am 30. FilmFestival Cottbus teil. Sie nahmen die Sondersektion „Close-Up WWII“ in den Blick, diskutierten über heutige Erinnerungskulturen und über die unterschiedlichen filmischen Zugänge zur heutigen Thematisierung des Zweiten Weltkriegs.
Vom 08. bis 13. Dezember 2020 feierte das FilmFestival Cottbus seit 30-jähriges Bestehen. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 war vieles anders, aber eines blieb gleich: Die Bandbreite des osteuropäischen Kinos, die in insgesamt 15 Sektionen präsentiert wurde. Neben dem umfangreichen, diesmal digital abrufbaren Festivalprogramm lud das FFC zu einem vielfältigen Begleitprogramm ein: Die Q&As mit den Filmschaffenden, Online-Diskussionen und Expert:innengespräche rund um die Sektionsthemen sind auf dem Youtube-Kanal des Festivals weiterhin verfügbar.
“Close Up WW II” – passend zum 75. Jahrestag des Kriegsendes versammelte die Sektion unter den Schlagworten „Heldentum und Trauma“, „Dramatising History – alte Schlachten, neue Narrative“ und „Neue Heimat? Vertreibung und Neuansiedlung“ sechsundzwanzig Filme und unterschiedlichste Perspektiven osteuropäischer Filmemacher. Neben Klassikern wie LETJAT‘ ŽURAVLI (DIE KRANICHE ZIEHEN, R.: MICHAIL KALATOSOW, 1957), DIE BRÜCKE (R.: ARTHUR POHL, DE/SBZ 1949) oder THE VALLEY OF PEACE (R.: FRANCE ŠTIGLIC, YU (SI) 1956) standen ebenso actionreiche Großproduktionen wie der teilweise in Brandenburg gedrehte INGLORIOUS BASTERDS und Serien wie LUDZIE I BOGOWIE (R.: BODO KOX, PL 2020), aber auch postmemoriale Spurensuchen wie SEARCHING FOR TERESKA (R.: KAMA VEYMONT, PL 2019) oder UNVERGESSENE GESCHICHTEN (R.: ANDRZEJ WINISZEWSKI, PL/DE 2017) auf dem Programm. Die Sektion machte deutlich: Auseinandersetzung mit Geschichte findet auch und gerade in Film statt.
Den Auftakt zur Festivalsaison und zum novinki-Seminar machte der gemeinsame Filmabend unter dem Motto „OEI meets FFC“ am 21.10.2020. Gezeigt wurde DYLDA (Bohnenstange, RU 2019) des kabardino-balkarischen Regisseurs Kantemir Bagalov – ein ungewöhnlicher Film über die Traumata des zweiten Weltkriegs. Das anschließende Filmgespräch stieß Fragen an, die auch im Semesterverkauf immer wieder im Vordergrund stehen würden: Gemeinsam wurde im Kurs darüber diskutiert, wie vielschichtig Erinnerungsdarstellung funktioniert, wie sich ost-und westeuropäische Zugänge zur Vergangenheit teils unterscheiden und wie die Kriegsgeschichte vor dem Hintergrund aktueller politischer Konflikte über Filmbilder und -narrative wieder angeeignet, umgedeutet und emotionalisiert wird.
Einen Einblick gibt das sektionsbegleitenden Online Panel „Traumata statt Heldenerzählung“, in dem, moderiert von Irine Beridze (OEI FU Berlin), die beiden Seminarleiterinnen Dr. Nina Weller (Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder) und Christiane Schäfer (PSI FU Berlin) mit Dr. Eva Binder (Institut für Slawistik, Universtität Innsbruck) und Bernd Buder (Programmdirektor FilmFestival Cottbus) über DYLDA und über die filmische Auseinandersetzung mit der Leningrader Blockade sprachen.
Neben dem kulturwissenschaftlichen Blick auf das Thema das novinki-Seminar von den Studierenden genutzt, um sich schreibend der Sektionsauswahl zu nähern und Rezensionstechniken kennenzulernen und einzuüben. novinki.de präsentiert die entstandenen Texte in der Kategorie „angeschaut“:
Bettine Bredereck setzt den Film „Melānijas hronika“ („The Chronicles Of Melanie“, 2016) des Regissseurs Viesturs Kairišs über das Schicksal der Opfer stalinistischer Deportationen im Baltikum in einen historischen, aber auch einen aktuellen politischen Kontext. Dabei lobt sie, wie nah die eindrückliche Filmästhetik den Zuschauenden kommt, kritisiert aber auch dramaturgische Schwächen und allzu heroisierende Stilisierungen.
Ein Dorf im Schatten der Geschichte
Nicolas Ellscheid geht in seiner Rezension zu „Krajina ve Stinu“ („Shadow Country“, 2020) den unbequemen Fragen nach, die der prämierte und durchgängig in schwarzweiß gehaltene Film stellt: Wer hat Schuld, wer ist im Recht, wie weit darf Rache gehen. Anhand des Mikrokosmos Dorf zeigt Regisseur Bohdan Sláma die Auswirkungen von nationalsozialistischem Terror und Holocaust auf die tschechisch-deutschen Grenzregion und die Menschen, die zurückbleiben.
Das weibliche Gesicht des Krieges
Margaret Pleskach rezensiert „Dylda“ („Bohnenstange“, 2019), Kantemir Balagovs zweiten Spielfilm über das Leningrad nach dem zweiten Weltkrieg. Mit der Darstellung drastischer Frauenschicksale jenseits des Schlachtsfelds gelingt ihm ein "einzigartiges und eindrucksvolles Filmerlebnis", dass nicht zuletzt neue Perspektiven auf alle Narrative ermöglicht.
„Du bist mein Schicksal, die Vitalität meiner Seele…“ Das sind die ersten Worte des Ohrwurms, der den Protagonisten von Szilárd Bernáths „Szabadok“ („Earworm“, 2019) nicht mehr loslassen will. In Bernáths Kurzfilm, der sich vor allem durch seine außergewöhnliche Inszenierung der Handlung auszeichnet, steht ein Mensch vor einer fürchterlichen Entscheidung.
Ist das jetzt Satire, oder kann das weg?
Anna Kücking widmet sich den nur scheinbar unkonventionell tollpatschigen underdogs des russischen Blockbusters PRIKAZ UNIČTOŽIT (Secret Weapon, R: Konstantin Statskij, RU 2019) und filtert die Grenze zwischen satirischer Selbstironisierung und unkritischer Kriegsverharmlosung auf.
Alissa Geffert spürt dem Krieg der Erinnerungen in der Schlachtdarstellung von RŽEV (Rzhev. Unkown Battle, R: Igor Kopjlov, RU 2019) nach. Obwohl der Film sich in ganzer Grausamkeit einer Schlacht widmet, die im russischen Erinnerungsdiskurs sonst wenig Platz einnimmt, schafft er es nicht, sich von allem Siegespathos zu lösen und eine vielschichtigere Reflexion einzuleiten.
“Unvergessene Geschichten” – für die einen unvergesslich, für die anderen bloß Geschichte.
Carla Kölling führt uns durch das wechselhafte Schicksal des Dorfs Trzębiel, zu Deutsch Triebel, wie es der Regisseur Andrzej Winiszewski in UNVERGESSENE GESCHICHTE (Historie Nezapomniane, DE/PL 2017) anhand deutscher und polnischer Augenzeugenberichte einzufangen versucht. Der Rückblick kommt ohne Pathos und laute Töne aus, schafft es aber letzten Endes nicht, mehr als ein flüchtiges Bild zu zeichnen.
Tappen in der Dunkelkammer – Die Entwicklung eines Fotos.
Leonie Koll rezensiert den Dokumentarfilm SZUKAJĄS TERESKI (Searching for Tereska, R: Kama Veymont, PL 2019), bei dem die Zuschauer:innen die Akteure auf ihrer Suche nach dem Menschen hinter einem der ikonischsten Bilder der Nachkriegszeit gewissermaßen begleiten. Dabei folgt Koll den Bewegungen des Films durch unterschiedliche Zeiten und Räume: vom jungen und modernen Warschau während eines zeitgenössischen Sommers bis in die kollektiven und individuellen Räume der vielfach überlagerten Erinnerung an eine Vergangenheit, von der das Warschau der Gegenwart immer noch geprägt ist und lobt die behutsame Entmystifizierung des Films.